Ballonstart der Miss Polly in Süchteln

Am 07. September 1909 war in der Süchtelner Zeitung über den spektakulären Start der „Miss Polly“ in Süchteln-Vorst auf der Oedterstraße folgender Bericht zu lesen:

 

Der Luftschiffahrt bringt heute, angespornt durch die Zeppelin’schen Erfolge, alle Welt das größte Interesse entgegen. Daß dies auch bei der hiesigen Bürgerschaft zutrifft, konnte man am verflossenen Kirmessonntage gewahren. „Miss Polly“ ging es von Mund zu Mund, soll gemäß Ankündigung durch Plakate und Zeitungsannoncen bei günstiger Witterung mit ihrem 800 Kubikmeter fassenden Ballon von den Gartenanlagen der „Johannisburg“ aus ( Inh. Konrad Hermanns ) zu Süchtelnvorst einen Aufstieg unternehmen. Ein solcher war in Süchteln noch nicht geboten worden und jeder freute sich daher auf den genußreichen Anblick.
 
Die Vorbereitungen zur Fahrt verfolgte man mit größter Aufmerksamkeit. Von der Gasleitung aus musste eine 72 Meter lange Röhre zur Aufstiegsstelle gelegt werden, durch welche das nötige Gas zugeführt werden konnte. Dieses Quantum ist gleich einer fast vollständigen Füllung des städtischen Gaswerkes. Obgleich die Gasanastalt auch den Reserveofen in Betrieb genommen hatte, so konnten beide Gasöfen das erforderliche Gas doch nicht in so kurzer Zeit schaffen, besonders da auch die Stadt an den Kirmestagen einen großen Konsum hat. Morgens setzte demnach schon die Füllung des Ballons an mit je 40 Kubikmeter Zuführung in zeitlichen Zwischenräumen. So wuchs gleichsam die Ballonhülle zu ihrer vollen Dimension allmählich heran und kämpfte fortwährend gegen die im Umkreise an dem Umfassungsnetz befestigten Sandsäcke, indem diese nach unten hin zur Erde strebten, jener aber dem Reiche der Lüfte zu. Eine große Zuschauermenge harrte in den Gartenanlagen gespannt auf den Aufstieg, eine noch größere außerhalb des Gartens jenseits des Eisenbahndammes, den eine Bahnwache gesperrt hielt, sowie auf der Provinzialstraße und dem angrenzenden Terrain, welches von einer Gendarmerie-Patrouille besetzt war.

Während die Spannung der Zuschauer fieberhaft heranwächst, vergnügt sich die kühne Luftschifferin mit aller Gemütsruhe im Ballsaale des Restaurants beim Tanz.
Kurz vor 7 Uhr aber zieht sie sich zurück und legt Matrosenuniform an. Den umfangreichen Modehut mit Straußenfedern vertauscht sie mit einem luftigen Barettchen. So durchschreitet sie endlich die Beifall jauchzende Schar der Zuschauer und betritt den Ballonplatz, wo der Monteur die letzte Hand zur Flottmachung des Luftschiffes angelegt hat. „Miss Polly“ kommandiert Mannschaften heran, die das ungeduldig sich gebärende Luftroß an den vom Boden gelösten Seilen halten. Der Monteur befestigt die Gondel, die mit Anker und Mundvorräten versehen wird und schwingt sich in dieselbe hinein. „Musik“ kommandiert „Miss Polly“ und unter den Klängen derselben besteigt sie den Rand der Gondel mit turnerischer Gewandheit. Die rechte Hand am Takelwerk, in der ausgestreckten Linken das Barettchen schwingend, nur noch mit einem Fuße den Rand der Gondel berührend in weit übergeneigter graziöser Haltung verabschiedet sie sich von der stürmisch applaudierenden Menge. Majestätisch und sicher erhebt sich das Luftschiff in schwindelnde Höhe und nimmt den Kurs nach Süden auf Neersen zu. Mit gefesselten Blicken verfolgt die Menge die Flugrichtung des Luftschiffes, welches mit der zunehmenden Entfernung sich immer mehr zu verkleinern scheint. -
Mit dem kostspieligen Arrangement einer Luftschiffahrt hat der Inhaber der „Johannisburg“ offenbar einen effektvollen und repräsentablen Zug getan.

 „Miss Polly“ lautete der Künstlername der damals sehr bekannten Käthe Paulus. Sie wurde 1868 in Berlin geboren. 23 jährig brachte sie einen Sohn zur Welt, dessen Vater vermutlich der damals sehr bekannte Luftschiffer Hermann Lattemann war. Im gleichen Jahr 1891 flog sie erstmals mit dem Ballon Lattemanns mit und eignete sich begeistert die Kunst des Fliegens an. 1893 wagte Katharina Paulus ihren ersten Absprung aus 1200 Metern Höhe und erkannte schnell, welche emanzipatorischen Chancen für sie in europaweiten, spektakulären Ballonaufstiegen lagen. Sie war auch die erste Frau an einem Fallschirm. Die Textilien für Fallschirme verbesserte sie in ihrer eigenen Firma laufend, entwickelte bald den Paketfallschirm und führte damit erstmals den Fallschirm zur Lebensrettung ein. Als 1894 Lattemann bei einem Absprung tödlich verunglückte und ihr Sohn an Diphtherie starb, entschloss sie sich, das Fliegen aufzugeben. Einige Jahre später stieg sie jedoch wieder in das Sport- und Showbusiness ein. Als Aeronautin „Miss Polly - die Königin der Lüfte“ schwebte sie zur Jahrhundertwende über Berlin - an selbst geschneiderten Gleitschirmen und Ballons. "Runter kommen sie alle", lautete die Devise der kecken Berlinerin, die für reichlich Furore in der Männerwelt sorgte. Bis 1912 stieg sie über 500 mal mit dem Ballon auf und mit dem Fallschirm sprang sie rund 150 mal in die Tiefe. Sie starb 1935 nach langer, schwerer Krankheit.

zurück