Die Geschichte der Kuhren Madelen

Wie ein düsteres Märchen aus vergangenen Tagen klingt die Geschichte der Kuhren Madelen. Neben der ersten Betstation am Wege zum Heiligenberg hatte man aus überhängenden Zweigen einer Hecke eine Art Schirmdach geformt, darunter befand sich eine hölzerne Bank, und auf dieser Bank kauerte von frühmorgens bis zum Abend ein armes, irrsinniges Weib, die Kuhren Madelen.

Sie war früh gealtert. Ihr hingen die halbergrauten Haarsträhnen über die Schläfen; aber ihr Gesicht zeigte noch Spuren früheren Hübschseins, und auch ihre zwar ärmliche Kleidung war ebenso sauber und ordentlich wie sie gewesen, als Magdalena in jüngeren Jahren ihr damals dichtes kastanienbraunes Haar in die Höhe zu binden pflegte. Den Namen „Kuhr“ hatte sie von ihrem Vater, der in der französischen Zeit Nachtwächter in Süchteln gewesen war, dem einzigen Gemeindeangestellten, der von der ganzen Gemeinde „gekürt“, also gewählt wurde. Der Vater war früh gestorben und hatte neben der Tochter einen um zwei Jahre älteren Sohn hinterlassen, den die Madelen abgöttisch liebte. Als er in das Alter der Mündigkeit kam, bemächtigte sich die französische Konskription ( damalige Wehrpflicht ) seiner und schickte ihn nach Rußland, wie so manchen anderen jungen Rheinländer, ohne daß je mehr von ihm auch nur irgendeine Kunde in die Heimat gelangte.

Jahre vergingen, und als die Nachbarn nicht müde wurden, dem Mädchen zu erzählen, daß ihr Bruder auf den Eisfeldern Rußlands verblieben sei, brach ihr das Herz, und dann wurde sie irrsinnig. Aber während in anderen Fällen der Irrsinn sich immer tiefer und schmerzlicher in eine Seele hineinsenkt, hatte er bei Madelen dazu gedient, eine neue Hoffnung in ihr aufzuwecken. Sie konnte sich nicht denken, daß der Verschollene nicht mehr zurückkehren würde, und es ward bei ihr zur krankhaften Vorstellung, daß er auf dem Heimwege zu ihr sei. Sie lebte nur in dem Gedanken, daß sie ihn von Stunde zu Stunde zu erwarten habe. Wenn sie früh morgens erwacht war, sich gewaschen und gekleidet hatte, band sie ein Tuch um den Kopf und wanderte nach dem ersten Fußfall, der nach dem Heiligenberg hinaufführt; denn es stand bei ihr fest, daß der Bruder von dort herunterkommen und auf diesem Wege ihr begegnen würde.

So saß sie Jahr auf Jahr auf dem kleinen Holzschemel, den die Nachbarn in die Hecke hineingezimmert hatten, immer der gleichen Sehnsucht, ohne daß sie je erlosch, nachhängend. Mit jedem, der vorüberging, wechselte sie ein freundliches Wort, und abends, wenn Beter kamen, warf sie sich auf die Knie und betete mit ihnen. Sie klagte nie. Denn dazu war kein Grund vorhanden, wußte sie doch, daß ihr Bruder auf dem Heimweg zu ihr war. Der Weg von Rußland bis hier war weit, und deshalb mußte sie Geduld haben. Die Nachbarn brachten ihr Speise und Trank, und während der Winterzeit gestattete man ihr einen Platz am warmen Ofen. Sie lebte ohne Bangen und in froher Hoffnung. Auch den ältesten Bekannten zeigte sie immer aufs neue die lichte Stelle im nahen Walde, durch die der Bruder zum Vorschein kommen würde, und jedem beschrieb sie, wie er aussähe, damit man ihn erkenne: Er ritt ein schneeweißes Pferd, trug ein goldenes Kleid und einen blanken Säbel in der Hand.

Um das Jahr 1850 war eines Tages die Stelle leer. Vormittags läutete die Sterbeglocke. Kuhren Madelen hatte endlich ihren Bruder wiedergefunden.

Blick vom Heiligenberg auf Süchteln - Lithographie um 1830

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